A review by beaconatnight
Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand by Nahum Norbert Glatzer

4.0

Philosophen diskutieren, was Dinge wirklich sind. Viele dieser Fragen werden bereits bei Platon diskutiert: Was ist Gerechtigkeit? Was ist Wissen? Was ist Liebe, was Tapferkeit? Das ist schön und gut. Wenn dieses Denken aber von der Annahme beginnt, dass die Dinge etwas anderes sind, als sie zu sein scheinen – dann wird es krankhaft. So jedenfalls der Vorwurf Franz Rosenzweigs.

Schlimmer noch. Wer nach dem "Wesen" der Dinge fragt, der läuft ernsthaft Gefahr, den Verstand zu verlieren. Rosenzweig spricht hier vom drohenden "Anfall". Wer aufrichtig ins Philosophieren gerät, der mag grundsätzlich an der Wirklichkeit der Außenwelt zweifeln. Er mag zweifeln, dass er selbst Urheber seines Tuns ist. Und wer an Welt und freien Willen zweifelt, der hat vermutlich den Glauben an Gott lange verloren. Der umfassende Skeptizismus lauert für den Philosophen an jeder Ecke.

Rosenzweig geht es in seinem Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand primär um die Therapie des von ihm diagnostizierten und zugegebenermaßen sehr speziellen Krankheitsbildes. Dem heutigen Leser wird der ernsthafte Ton des Werkes vermutlich etwas lächerlich erscheinen, nicht zuletzt aufgrund des bewusst humorvollen und leichtherzigen Schreibstils. An einigen Stellen fällt es mir schwer zu entscheiden, ob es sich um ironische Fiktion handelt, gerade bei der vorgeblichen Korrespondenz mit dem in einem Sanatorium praktizierenden Arztes. Wer aber am Wert oder zumindest Nutzen der (akademischen) Philosophie zweifelt, der wird Rosenzweigs Diagnose vielleicht etwas abgewinnen können.

Der Kern seines therapeutischen Ansatzes ist das unmittelbare Erleben. Er empfiehlt dem (vermutlich fiktiven) Arzt, mit dem (vermutlich fiktiven) Patienten intensive oder euphorische Momente im Rahmen der umgebenden Möglichkeiten zu suchen. In dem in Kapitel 4 und 5 skizzierten Beispiel sind es Bergwanderungen, die im Patienten eine positivere Grundhaltung der Welt gegenüber wecken sollen. Für andere Menschen mögen es Konzerte, das Meer, gutes Essen oder tiefsinnige Literatur sein.

Theoretisch betrachtet soll es den Patienten davon überzeugen, dass es keine eigentliche Wirklichkeit hinter den Erfahrungen gibt. Das Problem ist nicht bloß der radikale Idealismus, der alle äußeren Dinge auf geistige Konstrukte reduziert. Antiidealistische Gegenentwürfe – Materialismus, Physikalimus, Naturalismus – ihnen gemein ist der Versuch, das Erleben auf andere Konstrukte (wie Materie oder Natur) zu reduzieren. In seiner pragmatischen Haltung sieht sich Rosenzweig im Einklang mit der Grundhaltung der Wissenschaft. Für Wissenschaftler sei die Welt auch wenig mehr als ein "ganz allgemeiner Wechselschein", in denen Teile der unmittelbar erlebten Welt miteinander in Beziehung gebracht und zu erklären versucht werden.

Drei Kapitel, die drei Wochen einer Kur darstellen sollen, diskutieren die drei Hauptthemen der traditionellen Philosophie: Welt, Seele (Geist) und Gott. Genauer, sie diskutieren Welt- und Lebensanschauungen. Darin gibt er einige Abrisse der Ideengeschichte, bevor er ihnen seinen Gegenentwurf entgegenhält. Eine besondere Rolle spielt für ihn dabei die Sprache. Er spricht beispielsweise mit bewusst biblischer Konnotation vom "Urrecht des Menschen", die Dinge mit einer Namen zu belegen. Aus Sicht der modernen Sprachphilosophie sind diese Ausführungen vielleicht interessant, weil sie an Saul Kripkes Kritik am Deskriptivismus in Naming and Necessity erinnern. Ich konnte aber nicht recht entschlüsseln, welche systematische Rolle Sprache in Rosenzweigs Gegenentwurf spielt.

Das Büchlein ist auch als "Prolegomena" zu Rosenzweigs theologischen Hauptwerk konzipiert, das weitaus umfangreichere und zuvor veröffentlichte Der Stern der Erlösung. Vermutlich werden religiöse Fragen darin mehr in der Tiefe diskutiert. Wer primär an Religionsphilosophie interessiert ist, den wird das Büchlein wahrscheinlich eher enttäuschen.

Neben seinen grundsätzlich kritischen Ausführungen enthält es aber durchaus auch einige positive Beiträge zur Philosophie. Das für mich interessanteste Beispiel diskutiert die fast lächerlich einfache Frage, was im Kopf eines Menschen passiert, der ein Stück Käse kauft. Hierbei interessiert ihn vor allem der Werdegang und er unterscheidet zwei Ausgangspunkte: Entweder hat die Person das Haus mit dem Vorsatz verlassen, ein Stück zu kaufen; oder ihr kam der Wunsch erst, als sie ein Stück Käse zum Verkauf angeboten fand.

In beiden Fällen wird am Ende "ein ganz bestimmtes Stück Käse" gekauft. Und in beiden Fällen ging dem Kauf ein Gedanke an Käse voraus. Der Unterschied besteht für Rosenzweig in der Frage, woran die Person dabei genau dachte. Im zweiten Fall denkt sie offensichtlich an das konkrete Stück Käse, das sie vor sich sieht. Aber woran dachte die Person, die sich vorgenommen hatte, Käse zu kaufen?

Wie gesagt, es ist ein etwas lächerliches Beispiel. Für die allermeisten Menschen ist klar: sie hatte dabei so etwas wie eine bildhafte Vorstellung von einem Stück Käse vor dem geistigen Auge. Mit anderen Worten, sie erinnert sich an einen zuvor gegessenen Käse. Nur Philosophen werden in Frage stellen, dass die Ähnlichkeit zwischen dem bildlich vorgestellten Käse und dem wahrgenommenen Käse ausreicht, um eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen.

Ist der Fall einmal auf diese Weise rekonstruiert, dann wird man vermutlich nach einem Dritten suchen, das an dieser Stelle vermittelt. Einige Philosophen haben eine "Idee" vom "Käse überhaupt" postuliert, um den Zusammenhang nominalistisch zu erklären. Kognitionspsychologen sprechen von "Begriffen" oder "Paradigmen", von denen wir die meisten im frühen Kindesalter erwerben und mit denen wir abwesende Dinge mental "repräsentieren" und anwesende Dinge als das "identifizieren", was sie sind. Für einige Linguisten und Sprachphilosophen handelt es sich dabei um "Bedeutungen", die wir relativ arbiträr mit sprachlichen Ausdrücken zu assoziieren lernen.

Rosenzweig interessiert all das nicht im Detail. Ihm geht es darum: Wenn wir ins philosophische Fragen geraten, dann laufen wir immer Gefahr, den echten Bezug zu den Dingen zu verlieren. Im Anbetracht der stetig wachsenden Flut geisteswissenschaftlicher, aber auch naturwissenschaftlicher Bücher und Aufsätze erscheint die Sorge sicherlich angebracht.